Warum kann ich nicht weinen? Ich sollte traurig sein.

Mai 16, 2022 | Psychologisches Wissen | 0 Kommentare

Wenn du hier gelandet bist, dann gehe ich davon aus, dass du irritiert bist. Du hast etwas erlebt, wahrscheinlich hast du jemanden oder etwas verloren oder hast etwas schockierendes erlebt und fragst dich: “Warum kann ich nicht weinen?” Es kann natürlich auch sein, dass du einfach an meiner Titelzeile hängen geblieben bist.

Ich sollte traurig sein – warum kann ich nicht weinen?

Oft begegnet es mir in meinen Begleitungen, dass eine Frau oder ein Mann vor mir sitzt, etwas erzählt und plötzlich bricht die Stimme, es kommen Tränen und es ist Irritation da. Dieser Mensch wollte nicht weinen – die Tränen fließen einfach so, wenn die Worte der eigenen Geschichte über die Lippen kommen. Ich merke daran, dass wir genau bei dem Thema gelandet sind, das sich noch lösen darf. Und die Frau oder der Mann merkt, dass diese Erfahrung eben noch nicht verarbeitet ist. In dieser Phase taucht die Frage: “Ich sollte traurig sein – warum kann ich nicht weinen?” gar nicht mehr auf. Die Überforderung ist oft lange her und meistens längst vergessen. Aber der Körper vergisst nichts. Was ungelöst ist, das treibt im Stillen weiter sein “Unwesen” – oder macht eben auf sich aufmerksam. Ich spreche es dann meistens an – denn diesem Menschen ist es in den meisten Fällen unangenehm. “Super, dass sich das zeigt, dann nehmen wir das gleich und arbeiten damit.” So kommentiere ich die feine Veränderung in der Stimme, die ich wahrnehme – und mein Gegenüber am liebsten gerne verbergen möchte. Warum spreche ich es dann an? Es wäre viel zeitaufwendiger – und bräuchte von uns beiden auch mehr Energie, es jetzt wieder wegzupacken – und zu gegebener Zeit erneut ans Licht zu holen. Dann arbeiten wir lieber gleich mit den aufgestauten Gefühlen und wir können uns beide sicher sein: Die Belastung durch das Ereignis, das mit den Gefühlen verbunden ist, wird bald der Vergangenheit angehören. An dem Punkt sind wir dann schon bei der Lösung. Die Frage: “Warum kann ich nicht weinen?”, stellen sich die meisten viel, viel früher.

Gründe, warum man nicht mehr weinen kann

Fragst du dich: “Warum kann ich nicht weinen? “Kaum eine Frau, die sich bei mir meldet, fragt sich bevor sie mich anschreibt: “Wie reagieren Therapeuten auf Weinen?” Sie macht sich gar keine Gedanken darüber, es passiert eben. Was ist aber der Grund dahinter? Es können unterschiedliche Ereignisse sein, die überfordernd sind. Die einen verlieren einen lieben Menschen. Oft genau dann, wenn man gar nicht damit rechnet. Die Mutter stirbt, der Vater oder sogar ein Kind. Und so ein Verlust kann so tiefgreifend sein, vor allem wenn er unerwartet geschieht – dass unser Nervensystem erstmal in eine Starre geht – um sich vor der Überforderung zu schützen. Und in dieser Starre geschieht dann genau das, was keiner erwartet: Du kannst nicht weinen. Dabei hattest du erwartet, wenn diese große Belastung passieren würde, dass du auf jeden Fall den Tränen sehr nahe sein wirst.

Oder du wurdest verletzt. So tief verletzt, dass du es kaum aushältst. Manchmal frage ich mich tatsächlich, wenn ich eine Frau begleite und mitbekomme, was sie alles erlebt hat: “Wieviel seelischen Schmerz kann ein Mensch ertragen, bis er daran zerbricht?” Das was so weh tut, kann ein Vertrauensbruch sein, ein Schmerz der dir absichtlich zugefügt wurde oder sonst eine schmerzliche Situation. Oft kommen auch noch unterschiedliche Belastungen zusammen. Und du fragst dich wieder: “Warum kann ich nicht weinen?”, oder auch: “Wieso verspüre ich keine Trauer?” Dabei ist sonnenklar – die Überforderung war so groß, dass sich dein Nervensystem durch eine Starre davor schützen musste, gar nicht mehr zu funktionieren. Und so kannst du jetzt funktionieren – aber Weinen oder Trauern geht gerade nicht. Das ist aus meiner Sicht der Grund, warum man nicht mehr weinen kann.

Ich kann nicht aufhören zu weinen.

Es gibt auch genau das Gegenteil – dass jemand nicht in Starre geht, sondern einfach nicht mehr aufhören kann zu weinen. Hier sind die Schleusen offen. Auch das drückt die Belastung aus und manches darf sich auch einfach über Tränen lösen. Lasse dir Zeit – es ist so wichtig, die Gefühle nicht zu unterdrücken. Falls diese Phase länger als 4 Wochen dauert, kannst du auch mal jemanden um Unterstützung bitten. Denn dann könnte es auch ein Zeichen für eine beginnende Depression sein. Aber das alleine macht noch keine Depression. Lasse erstmal deine Tränen fliessen. Du weisst wahrscheinlich, was der Grund dafür ist? Falls du es nicht weisst, dann könnte es auch Zeit sein, dass du dir mal einen Termin holst für einen Souveränitäts-Check bei mir. Manchmal ist das Nervensystem einfach total überfordert und es wäre wichtig, dass Ruhe ins System kommt. Manche weinen sogar soviel, dass sie sich fragen: “Sind Tränen gut für die Haut?” Und da kann ich dich beruhigen – es schadet deiner Haut überhaupt nicht, wenn Tränen drüber kullern. Und sie tun auch der Seele gut, wenn sie fließen.

Wie du wieder weinen kannst.

Genau – wenn es in dieser alten Situation direkt nicht möglich war, das holst du eben nach. Manchmal geschieht das von alleine. Unter welchen Bedingungen kann das geschehen? Es wird auf keinen Fall geschehen, wenn du den ganzen Tag mit deinen Aufgaben beschäftigt bist. Was es dafür braucht ist entweder jemand, der sich in dich einfühlt, der dir Empathie gibt – oder es braucht Zeit, Ruhe und Selbstempathie. Wenn Zeit vergangen ist und dein Nervensystem genügend Sicherheit oder Vertrauen empfindet, damit es die Starre wieder loslassen kann, dann öffnen sich die Schranken und du kannst wieder weinen. Oder aber du hast dir kompetente Hilfe geholt – und mit Unterstützung gelingt dann endlich, was alleine gar nicht so gelingen wollte. Du kannst dann wieder weinen, wenn jemand dich sieht, wenn jemand genau diese Worte aussrpicht, wie du damals empfunden hast. Das kann sein: “Das war damals alles zuviel.”, oder auch: “Es war gar nicht deine Schuld.”, ganz oft hilft auch ein Satz wie: “Da wurden dir Dinge anvertraut, die gar nicht für deine Ohren bestimmt waren.” Auf jeden Fall liegt es nicht an dir, dass du gerade nicht weinen kannst  – du machst nichts falsch. Es ist dein Nervensystem, das dich einfach vor einer Überforderung bewahrte. Oder dein Nervensystem hat in dieser Situation sichergestellt, dass du weiter funktionieren konntest. Lass uns doch gemeinsam einen Blick auf deine Situation werfen, wenn du das Gefühl hast, da gibt es alte Überforderungen, die dich heute noch belasten und buche einen Termin für einen Souveränitäts-Check.

Was sagt Florian aus Flensburg zu meiner Begleitung?

Vor kurzem schreibt mich ein Mann an, der nach sehr belastenden Erfahrungen nicht mehr weinen kann. Wir sprechen miteinander. Ich sage ihm, dass ich alles tue, was ich kann, dass er sein Ziel erreicht – er möchte die Tränen wieder fließen lassen können. Aber ich mache auch deutlich, dass ich es ihm nicht garantieren könne. Er sagt, es sei ihm oft zu Weinen zumute – aber es kämen keine Tränen. Bei unserem ersten Termin führe ich ihn gezielt entlang dem, was sein Körper uns zeigt. Wir finden eine vergangene Situation, in der er überfordert wurde und dadurch eine emotionale Starre entstand. Ich spürte, dass diese sich beginnt aufzulösen, der kalte Schauer in meinen Armen zeigte mir, dass sich die Energie in seinen Armen aus der Starre zu lösen begann. Er bestätigte mir das auch, seine Arme fühlten sich plötzlich warm an und sehr angenehm. Und kaum hatten wir begonnen, beginnen Tränen über sein Gesicht zu laufen. Er strahlt vollkommen überrascht – das hatte er nicht erwartet.

Am Ende unseres Termins sagt er mir: “Danke – das tut sehr gut. Bin froh, dass ich dich gefunden habe und dass ich dich angeschrieben habe. Ich muss definitiv sagen, dass man Taschentücher dabei braucht.” Wir lachen beide und vereinbaren einen neuen Termin. Den Namen habe ich natürlich verändert – aber die Geschichte ist echt.

Hast du das schon erlebt, dass du nicht weinen konntest – obwohl dir danach war?

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